Jetzt seien wir doch mal ehrlich: Es ist ziemlich einschüchternd, neue musikalische Projekte oder Songs anderen Menschen zu zeigen.
Für mich ist dies auf jeden Fall.
Weil irgendwie doch dieser untergründige Anerkennungsgedanke mitschwingt:
“Ist meine Musik wirklich gut?”
“Werden meine Zuhörer davon berührt werden?”
Deshalb kann ich es so gut verstehen, wenn mir andere Sänger von ihren Ängsten erzählen, überhaupt irgendwo anders als zu Hause ihre Stimme zu zeigen.
So ergeht es mir (fast) jedes Mal, wenn ich eine neue Songidee oder Arrangement meinem Pianisten Claus Vogel vorsinge.
Seit über einem Jahrzehnt arbeiten wir nun zusammen, wir kennen und wir schätzen uns, ich schmelze bei seinem Spiel dahin. Und doch baut sich in mir immer schon vorher eine kleine Frustrationswelle auf, wenn ich mit so klug ausgeklügelten Ideen zu ihm komme um seine Meinung dazu zu hören.
Und seine Antwort ist häufig dieselbe…
“Mach es simpler.”
Warum sagt er das?
Weil er mir helfen möchte, die Seele des Songs in meinem Singen scheinen zu lassen.
Wenn Du Dir mal eine Improvisation von Miles Davis anhörst, dann wirst Du merken, wie wenig er letztendlich spielt, aber wie viel Wert und Genuss in jedem Ton steckt. Und wie viel interessanter es dann auch ist, wenn er auf einmal in einer Passage mit einem Tonschwall explodiert.
Genauso ist es bei der Interpretation von Songs
- Es ist eine Kunst, weniger Licks zu singen.
- Es ist eine Beherrschung seines Faches, weniger Noten zu spielen.
- Es ist eine neue Dimension, mit wenigen Ausdrucksformen emotionale Tiefe zu erreichen.
Sing simple in 3 ganz einfachen Schritten
1. Versuche die Seele des Songs zu finden
Natürlich ist es beeindruckend, wenn Christina Aguilera oder auch Michael Buble ihre riffs und runs exerzieren, aber wir dürfen nie vergessen, wie lang und wie häufig sie diesen Song dann schon gesungen haben.
Meistens waren sie schon im Studio, hatten lange Probenzeiten hinter sich, und so brannte sich der Song in ihre Seele ein. Auch versierte Sänger üben und planen noch ihre runs und Verzierungen in die Songs ein.
“Singe simpler” bedeutet:
- Versuche nicht gleich die Umspielungen und Läufe zu imitieren, sondern kümmere Dich um das Grundgerüsts des Songs, die ganz einfache Melodie. Singe sie so lange, bis sie Dir aus den Ohren herausströmt.
- Verinnerliche die Grundaussage, den inhaltlichen Kern des Liedes, indem Du zu 100% den Song verstehst und in einem Satz die Kernaussage in eigenen Worten zusammenfassen kannst.
- Sprich den Text laut aus, damit Du die natürliche Sprachbetonung von schweren und leichten Silben findest.
Wenn Du Riffing lernen möchtest, dann habe ich die perfekte YouTube- Lehrerin für Dich. Klicke diesen Knopf und finde es heraus:
2. Setze Stilmittel gezielt ein
Es gibt Sängerinnen wie z.B. Shinead O Connor, die haben bestimmte Merkmale wie Stöhnen oder Kieksen beim Singen. Dafür werden sie geliebt und auch gehasst. Bekannte Popsänger haben einen Erkennungswert. Sie klangen nicht von Anfang an so, sondern sie haben sich dazu entwickelt, wurden von anderen ermutigt und haben es dann perfektioniert.
“Singe simpler” bedeutet:
- Setze Vibrato gezielt ein. (Dies gilt auch für klassische Sänger.)
- Verschieße nicht am Anfang des Songs Dein gesamtes “Interpretations- Pulver”, sondern lasse hier und da kleinen Portionen los, um die Spannung des Songs zu entwickeln. (Tolles Beispiel ist Whitney Houston)
- Setze Stilmittel ein, um bestimmte Passagen zu betonen
- Benutze verschiedenen Dynamiken entsprechend der intensität des Songs
- Sei authentisch. Das Publikum merkt, wenn Du aus reinem Effekt slides, growls, etc. benutzt, du es aber vom Text her getrennt machst.
- Benutze verschiedene Klangfarben um die Atmosphäre des Liedes zu kreieren.(Ich hatte hier die Sängerin Sarah McLacham mit dem Song “Angel” im Ohr)
3. Baue gezielt Pausen ein
Ich habe Freunde, bei denen ich weiß, dass ich in einem Gespräch nur ein paar Worte sagen werden kann. Sie reden “pausenlos”. Ich bin gerne mit ihnen zusammen, sie sind unterhaltsam, aber gleichzeitig ist dies auch anstrengend, weil sich kein Gespräch entwickelt.
Singen ist ein Gespräch.
Manchmal eher eine gut erzählte Geschichte, manchmal ist es ein Gespräch innerhalb der Band. Aber es bleibt ein Gespräch.
Um aus einem Wortschwall ein Gespräch zu entwickeln, benötigen wir Unterbrechungen, sogenannte Zeichensetzungen: Komma, Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen. Und Pausen.
Gerade wenn wir etwas Wichtiges Gesagt haben, das man erst einmal sacken lassen muss, setzt eine Redepause ein. Manchmal ist sie kurz und manchmal ist sie länger.
“Singe simpler bedeutet:”
- Setze Pausen gezielt ein um zentrale Aussagen hervor stechen zu lassen.
- Sing nicht nur lange Töne, sondern wechsle lange und kurze Enden ab (gerade bei gleichen musikalischen Phrasen) für eine größere musikalische Abwechslung.
- Benutze die natürlichen Silben- Schwerpunkte der Sprache für rhythmische Verschiebungen.
- Singe so authentisch als würdest Du in einem Gespräch mit Deiner besten Freundin, Mutter oder Deinem Mann sein.
- Plane Pausen vorher ein.
Challenge
- Nimm Dir Deinen Lieblingssong vor und singe ihn so simple wie es geht, aber so ausdrucksvoll wie möglich
- Hör mich an, wie ich es mache. Wenn Du herausfinden möchtest, ob mir das bei unserem nächsten Auftritt mit meiner Band “Jazz and Good Stories” gelingt, dann kannst Du das, ohne nach Hamburg reisen zu müssen. Denn wir werden ein Webkonzert direkt aus unserem Wohnzimmer- Studio per livestream geben. Hier kannst Du dafür Tickets kaufen (es gibt keinen festen Ticketpreis) Du darfst mich auch gerne danach konstruktiv kritisieren :-)
- Lerne selber in einem intensiven Workshop. Oder wenn Du selber an Deiner Interpretation von Songs arbeiten möchtest, dann wäre bestimmt mein nächster Workshop am 3./4.10.14 hier in Hamburg etwas für Dich.
Und check out the ersten zwei Blogposts von meiner Serie:
5 Fehler, die die Persönlichkeit von Sängern rauben
Warnung an alle Sänger: Trinke nicht dieses Gift
Wie singst Du selber simpler und intensiver? Welche SängerInnen fallen Dir ein, die einfach, aber intensiv singen und so Dich emotional bewegen? Hinterlasse doch einfach einen Kommentar hier unten.
Fotos: Nick Page A Single Tree, Mateus Lunardi Dutra Shut up, just shut up, shut up